Aus dem Buch "Lebendige Sprachinseln"
KAMPELL / CAMPELLO MONTI -
Walser Gemeinschaft in der Provinz Verbania
Kampell: Gesamtansicht
Kampell, ein kleiner Ort Walser Ursprungs, liegt auf 1305 m ü.d.M. auf der Alpensüdseite im Monte Rosa Gebiet, auf dem Monte Prevor (‘l Pruvur), 1726 m, dem südlichen Vorläufer des Jungebärg (Monte Capezzone), 2421 m, der mit dem Altemberg, 2394 m, den Kupsee (Lago del Capezzone), 2100 m, umschließt. Man erreicht den Ort, wenn man auf der Landesstraße, die bei Omegna am Ortasee (Provinz Verbania, früher Novara) beginnt, durch das gesamte Valle Strona fährt, das nach etwa 19,2 km mit Kampell endet. Für die von Mailand oder Turin Kommenden bietet sich als bequemste Straße die Autobahn Milano/Laghi oder Voltri/Sempione an (mit der Ausfahrt Gravellona Toce (Verba nia), die von Omegna nur 5 km entfernt liegt).
Kampell hat stets die enge Beziehung zur Walser Gemeinschaft von Remmalju/Rimella (Valsesia) beibehalten, von wo vor rund siebenhundert Jahren eine kleine Gruppe Walliser Bauern und Schafzüchtern fortzog, um auch den Talschluss von Valle Strona zu besiedeln: Das südlich gelegene Tal erreicht man gleich nach Überschreiten der Bocchetta di Rimella, auf Tittschu (der Walser Sprache) »der Schtronerfurku« (Stronapass, über den der Saumpfad führt, der seit Jahrhunderten Kampell mit Remmalju verbindet).
Kampell war 115 Jahre lang, genau vom 7. Dezember 1814 bis zum 18. Februar 1929, eine autonome Gemeinde. Sie setzte sich aus der Hauptgemeinde Kampell (Campello) und aus vier Siedlungen zusammen: Tapòn (Tapone) auf 1087 m, Pianpanìn (Pian Pennino) auf 1121 m, Waud (Valdo) auf 1171 m und Runk (Ronco) auf 1285 m.
Die Almenzone (ausgenommen die Alpe Foscalina, die zur Siedlung Tapòn gehört) ist auf wenige Hundert Höhenmeter konzentriert: Die niedrigste Alm ist die Alpe Del Vecchio (1465 m), die höchste die Alpe Capezzone (1845 m). Diese durch die Talform bedingte Besonderheit von Kampell hatte bedeutende Auswirkungen auf die Produktionstätigkeit, die noch eingehend zu untersuchen sind. Auf vier Hauptalmen weideten die größeren Rinderherden (bis zu 35–50 Stück Vieh): Cama, Fornale Sotto und Sopra, Cunetta Sotto und Sopra, Capezzone.
Um diese vier neuralgischen Punkte waren weitere Gruppen von Hütten und Käsereien angeordnet, die sich an den Felsen schmiegten oder auf Anhöhen thronten – wie die Almen Scarpia und Calzino. Sie liegen verborgen auf den einzigen zwei Plateaus der Kampeller Seite des Bigiruss (Bise Rosso), eines Steinhangs, auf dem häufig Lawinen niedergehen. Zu nennen sind auch der Pennino Grande und Penninetto auf dem Sattel über zwei Tälern, mit wenigen Hütten, die sich, von allen Seiten sichtbar, gegen den Himmel abzeichnen.
Es ist ganz und gar nicht leicht, die lange, bewegte Geschichte von Kampell »vom Ursprung bis in unsere Tage« in wenigen Worten zu erzählen. Ich werde dies anhand der bedeutendsten Etappen versuchen, die in irgendeiner Art eine Erklärung zur Entwicklung des Ortes bieten. Fest steht, dass der Ursprung von Kampell den Walsern von Remmalju zu verdanken ist, auch wenn das obere Valle Strona – zur damaligen Zeit noch Gebiet des Val Sesia – von den Schafhirten von Cusio weit vor dem Eintreffen der Siedler von Remmalju zum Weiden des Viehs im Sommer genutzt wurde.
Das Weideland war Eigentum des Klosters San Graciniano von Arona, das den Hirten von Cusio (die nach alter Überlieferung für wiederholten Viehraub zum Schaden der Bevölkerung von Remmalju verantwortlich waren) das Weiderecht überließ.
Die eigentlichen Siedler jedoch, die die ungeheuren Schwierigkeiten eines Aufenthalts im Winter zu überwinden wussten, waren die Walser von Remmalju, die sich nach Erhalt der Konzession für die Nutzung der Almen des Capezzone, des Pennino und des Paninaccio am Zusammenfluss des Strona und des Chigno niederließen und ein Dorf im eigentlichen Sinn bildeten.
Im Jahr 1757 hielt Giovanni Battista Tensi in seinen Aufzeichnungen fest, dass die Entstehung des Ortes verfrühten, ausgiebigen Schneefällen zu verdanken war, die die Senner zwangen, in den Sommerhütten zu überwintern, die schließlich in feste Wohnstätten verwandelt wurden. Tensi hatte Einsicht in Urkunden, die später verloren gingen, weshalb wir uns – mit dem gebotenen Vorbehalt – auf diese Version der Entstehung von Kampell verlassen müssen.
Die Frage der Quellen ist noch offen, da die Texte und Urkunden, auf die sich die vorliegende Arbeit stützt, nur bruchstückhaft erhalten und oft widersprüchlich sind. Betrachten wir nun die bewegte Geschichte des Ortes Kampell und somit seine langsame, allmähliche Entfernung und Unabhängigkeit von Remmalju.
Das erste wichtige Ereignis erfolgte am 21. April 1551, als Monsignor Ubertino Serazio, Weihbischof des Kardinals Ippolito d’Este, mit der Gepflogenheit Schluss machte, die Toten von Kampell zur Beerdigung nach Remmalju zu bringen. An jenem weit zurückliegenden Tag wurden eine Kapelle und ein kleiner Friedhof eingeweiht.
Im Jahr 1597 löste Carlo Bescapè, Bischof von Novara, Kampell von Remmalju und gliederte es der Pfarrei von Forno an.
1698 wurde die Kirche des Gaby am Zusammenfluss des Chigno und des Strona eingeweiht; von ihr ist heute als einziges Zeugnis die Grundmauer des alten, 1779 errichteten Glockenturms erhalten.
1749 wurde Kampell, das 190 Einwohner zählte, autonome Pfarrei. Es entstand das Gebeinhaus des Friedhofs dort, wo sich jetzt der öffentliche Brunnen mit dem Waschplatz befindet. Der erste Pfarrer von Kampell war Don Antonio Fermo Tambornino.
Von 1754 stammt die Statue »Jesus im Grab«, die heute auf dem Seitenaltar der Kirche San Giovanni Battista steht. Mit ihr ist ein Wunder verbunden, dessen man alljährlich am zweiten Augustsonntag beim Fest des Gekreuzigten gedenkt.
Am 19. August 1781 zerstörte nämlich eine Flutkatastrophe die Kirche des Gaby, deren Gerätschaften und Urkunden verloren gingen. Wiedergefunden wurde bloß ein elfenbeinernes Kruzifix – das wieder zusammengesetzt werden konnte – und die Christusstatue, die in »wundersamer« Weise ganz geblieben war.
Nur wenige Jahre später (am 21. April 1784) legten die Einwohner von Kampell den Grundstein für eine neue Kirche, die sie in bloß sechs Jahren im Ortsteil Staffa errichteten. 1790 erfolgte ihre feierliche Einweihung im Beisein von Monsignor Ubertone, der sie die »Kirche des Wunders« nannte.
1792 entbrannte der erste und einzige »böse« Streit zwischen den Einwohnern von Kampell und Forno, bei dem es um die Nutzung der Almwiesen von Kampell ging. Die Regelung der »Bandi Campestri« von 1697 wurde von den Bewohnern von Forno nicht befolgt, die durch ihre Abholzungen den Ort Kampell in große Gefahr brachten, da sie ihm einen wichtigen Lawinenschutz nahmen.
Der Senat von Turin bestätigte 1793 den Kampellern die »Bandi Campestri«, doch erst 1796 fand nach einer langen und komplizierten notariellen Beurkundung der Streit zwischen den beiden Dörfern ein Ende.
1815 wurden als Bürgermeister des Ortes Francesco Guglianetti und mit ihm zwei Räte ernannt. So begann das Leben der Gemeinde, in deren Geschichte sich die Kampeller in vielen bedeutenden Fragen selbst verwalteten. Diese Periode dauerte mehr als ein Jahrhundert und endete, wie wir sehen werden, mit der Angliederung des Ortes an die größere Gemeinde Valstrona.
1817 wurden der Altar »Jesus im Grab« und der Glockenturm eingeweiht.
Eine weitere wichtige Etappe war die Angliederung von Kampell an Pallanza im Jahr 1837, nach Aufhebung der Provinz Valsesia. In dieser Zeit begann man von der Straße zu sprechen, die heute Omegna mit Kampell verbindet und die Gegenstand zahlreicher Projekte und Zwistigkeiten war, auf die wir hier aus Platzmangel nicht eingehen können.
1862 erhielt der Ort die heutige italienische Bezeichnung – d.h. zu »Campello« kam »Monti« hinzu – damit sollte er nötigenfalls von Campello sul Clitunno in der Provinz Perugia unterschieden werden.
1867 wurde das traditionelle Fest des Gekreuzigten eingeführt, zehn Jahre später das von Maria Schnee.
Weitere nennenswerte Momente dieser langen Geschichte waren folgende:
1895 brachte man in der Kirche ein großes Bild an, das der Schule des Guercino zugeschrieben wird; es wurde am 26. Mai 1973 entwendet und durch Zufall am 7. Februar 1999 in der Schweiz vom Einsatzkommando der für den Schutz von Kunstgütern zuständigen Carabinieri von Rom wieder gefunden. Dieses Bild hatte Cav. Francesco Janetti der Kirche von Kampell geschenkt.
1907 wurde der heutige Friedhof – ein Geschenk von Cav. Bartolomeo Janetti – errichtet;
1912 wurde der Hauptweg des Ortes, die Gassa angelegt, die man später nur kleineren Instandsetzungsarbeiten unterziehen musste. Die Gassa wurde 1997 schließlich völlig umstrukturiert und am 21. Juni 1998 beim Fest des Schutzpatrons Johannes d. Täufer vom Bürgermeister Giulio Piana eröffnet.
1922 setzte erneut die Ausbeutung des Nickel Bergwerks ein, die bis 1946 fortdauerte; danach wurde der Abbau endgültig eingestellt. Heute sind noch die Stolleneingänge und die verfallenen Waschwerke zur Bearbeitung des Rohmaterials zu sehen.
1924 schritten die 64 Wähler von Kampell zu den letzten Gemeinderatswahlen des Ortes, der mit Königlichem Dekret im Jahr 1929 der neuen Gemeinde Valstrona angegliedert wurde. Die letzten Jahrzehnte Kampells sind von langsamem, unaufhaltsamem Niedergang gekennzeichnet. Der letzte ständige Bewohner war Augusto Riolo, der bis 1974 im Ort blieb. Da er aus Remmalju stammte, sprach er noch das Walser Tittschu. Zu erwähnen ist auch Traglio Abele, der in Remmalju geboren war, doch dann nach Kampell heiratete, wo er auch als Führer des C.A.I. (italienischer Alpenverein) tätig war.
Diese Hinweise stammen aus verschiedenen Quellen, von denen die wichtigste das 1941 erschienene Buch »Campello Monti dalle sue origini fino ai giorni nostri« von Don Giulio Zolla und Antonio Tensi ist, die mit Geduld und Hingabe die Geschehnisse der bedeutendsten Perioden des Dorfes rekonstruierten. Nach 1941 wurde in dieser Hinsicht nur noch wenig oder nichts unternommen, weshalb wir vor einer geschichtlichen Lücke von über fünfzig Jahren stehen, die bis heute niemand füllen konnte.
Heute über die Walser von Kampell zu schreiben, ist ein schwieriges Unterfangen, da systematisch geordnete Unterlagen und Veröffentlichungen fehlen. Wir überlassen demnach Enrico Rizzi, dem namhaftesten italienischen Historiker, der sich mit den Walsern befasst, die Aufzeichnung und Belegung der historischen Ereignisse der italienischen Walser Gemeinschaft von Kampell:
»Wenn ich heute auf den Spuren der alten Siedler nach Kampell zurückkehre, bedeutet das für mich einen Sprung zurück in die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren, als ich persönlich Studien zur Geschichte der Walser betrieb. Es ist nun schon lange her, dass ich hier mit der anregenden Suche nach dem Ursprung dieses kleinen Volkes begann – einer Suche, die sicher noch nicht abgeschlossen ist, mich aber bereits lange Streifzüge durch Berge und Bücher unternehmen ließ.
Dem Walser Ursprung von Kampell widmete ich Mitte der Siebzigerjahre einen Vortrag für den Lions Club von Borgosesia. Seit damals hat die historische Forschung über die Walser große Schritte getan, sodass sich die Kenntnisse seit der Zeit radikal geändert haben. Was insbesondere die südlichen Täler des Monte Rosa anbelangt, müssen viele Theorien von damals kritisch überarbeitet werden. Vor allem ist das Gewicht, das den weltlichen Feudalherren (an erster Stelle den Biandrate) bei der Niederlassung der Walliser Siedler zugeschrieben wurde, historisch zu revidieren. Hingegen kommt den Klöstern eine vorrangige Rolle zu, wie allmählich klar aus den zahlreichen (teils unveröffentlichten) Urkunden zutage getreten ist, die ich von Mitte der Achtzigerjahre bis zu den letzten Monaten (s. meine Untersuchung des Beispiels Carcoforo, das dem von Kampell stark ähnelt) veröffentlicht habe.
Aus den neuen Studien geht ein gut umrissenes Bild der Feudalherrschaft in den südlichen Tälern des Monte Rosa in der Zeit vom 13. bis 15. Jahrhundert hervor, als sich die Walser Besiedlung an den Talschlüssen Grande della Sesia, Sermenza, Mastallone, Strona und Anzasca vollzog.
An all diesen Talschlüssen erstreckten sich Almen, die den Klöstern gehörten. Es waren Sommerweiden an der äußersten Grenze der großen Feudalbesitzungen, die Könige und Kaiser schon seit der Zeit der Franken und Langobarden an Klöster, Domkapitel oder bischöflichen Mensalbesitz gebunden hatten. In manchen Fällen stammten sie aus dem Vermögen weltlicher Adeliger – wie der Grafen von Pombia, Biandrate oder Castello –, die ab dem zehnten Jahrhundert die Klöster durch großzügige Schenkungen bereicherten, um sich das ewige Leben zu sichern und gleichzeitig (ohne die Erben um die reichen Besitzungen des Talgrundes zu bringen) die Güter religiöser Stiftungen und Abteien zu erweitern, an welche die Adelsfamilien durch komplexe verwandtschaftliche und politische Beziehungen gebunden waren.
Zur Erweiterung des Vermögens trugen auch die Klöster durch sorgfältige, systematische Nutzung des Berges bei. Aus den verbliebenen Urkunden, die sich auf die Almen der Klöster in Valsesia beziehen (wie San Nazaro von Biandrate), zeigt sich in Zeiten wie dem 12.–13. Jh. großer Eifer beim Ankauf, der Zusammenlegung und dem Tausch von Almen: Die Mönche betrieben eine eigene Politik, um die höheren Weiden rationell und gewinnbringend zu nutzen. Sie beschränkten sich nicht auf die Annahme von Schenkungen, sondern investierten in die Almen ihre Ersparnisse, die sie durch umsichtige Verwaltung der Ländereien in der Ebene in den ertragreichen Jahren gemacht hatten: so wie die Benediktiner oder die Zisterzienser andernorts in Forsten oder Sümpfen vorgingen, wo sie kolossale Rodungen und Bodenverbesserungen durchführten.
Wenn wir uns am rechten Ufer der Sesia aufwärts bewegen, stoßen wir auf die Almen von Meggiana oberhalb von Piode (die ersten Urkunden stammen von 1162), von Sorbella oberhalb von Rassa (1163), von Artogna und Locciabella oberhalb von Campertogno (1297); diese Almen gehörten dem Kloster San Nazaro von Biandrate. Die Alm Otro oberhalb von Alagna gehörte dem Kluniazenserpriorat San Pietro von Castelletto, das sie vom Kloster Sankt Peter von Cluny erhalten hatte– nach einer Schenkung des Grafen Guido di Biandrate im Jahr 1083. Die Alm Alagna (Valle d’Olen) gehörte mindestens seit 1196 dem Kloster San Nazaro von Biandrate, wie aus einer Belehnung dieses Jahres hervorgeht. Die Alm Mud (»Motis«) auf der anderen Seite der Sesia gehörte den Kluniazensermönchen von Castelletto, die sie 1138 durch ein Tauschgeschäft vom Kapitel San Giulio d’Orta erhalten hatten.
Ähnlich ist die Situation im oberen Tal Sermenza, wenngleich wir diesbezüglich über weniger sichere Hinweise verfügen. Im Jahr 1083 band der Graf Guido von Biandrate zahlreiche Güter in Valsesia an die Abtei von Cluny, darunter die Almen von Otro und Lavazoso, deren Lage nicht genau bekannt ist, die aber vermutlich am Talschluss des Valle di Rima lagen. Eine Reihe von Pergamentschriften aus dem Historischen Diözesanarchiv von Novara bestätigt außerdem, dass das gesamte obere Valsesia einst ein Gebiet kompakter kirchlicher Besitzungen war. Zu Beginn des 15. Jh. gehörten dem Bischof von Novara im Val Grande und im Valle Sermenza acht verschiedene Almen: die Alm Aurie (heute Safeyatz) oberhalb von Alagna, die Alm Alzarella (in Riva); die Alm Rima und Scarpia (im Valle di Rima), außerdem die Almen von Egua, Coste, Ragozzi und Castello (im Val d’Egua). Diese Besitzungen sind vermutlich alten Ursprungs, d.h. aus der Zeit 1025 1028, als der deutsche König Konrad II. der bischöflichen Kirche von Novara das Kloster San Felice von Pavia schenkte und mit ihm verschiedene andere Güter im Valsesia und in der Riviera d’Orta, darunter Otro (Alagna). Auch die Alm Mud, die 1138 vom Kapitel San Giulio dem Priorat von Castelletto abgetreten worden war, wurde vermutlich vom ursprünglichen bischöflichen Lehen gelöst. Es ist nicht auszuschließen, dass noch andere der Almen, die mit der Zeit in das Eigentum der Klöster übergingen, von dem Lehen abhingen, das König Konrad II. zu Beginn des 11. Jh. dem Bischof Pietro von Novara geschenkt hatte.
Das Bild der klösterlichen Besitzungen um den Monte Rosa wird abgerundet durch die (bereits 999 nachgewiesenen) Almen des Klosters San Graciniano von Arona in Macugnaga, wie auch jene des Kapitels San Giulio d’Orta in Remmalju (wo das Kloster von Arona und vermutlich das Priorat von Castelletto andere kleinere Almen besaßen) und von San Gradiniano in Kampell, auf die ich später eingehen werde.
All diese alten Almen wurden in der Zeit von Mitte des 13. bis Mitte des 15. Jh. in ein und demselben Rahmen der wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse, vertraglichen Bindungen und Besiedelungspläne, auf Initiative der Klöster und durch das Wirken der Walser, von Sommeralmen in dauernde Niederlassungen verwandelt.
Die Walser haben als kleines Bergvolk die gewagteste mittelalterliche Besiedlung der Alpen durch Gründung der europaweit höchstgelegenen Dörfer in die Wege geleitet. Ihre Geschichte beginnt im Gomstal, im Herzen von Ober Wallis, bei den Quellen der Rhone (Walser ist ein Synonym von Walliser), wo sich auf 1500 m ü.d.M. vielleicht schon im 10.-11. Jh. eine Gruppe alemannischer Schafzüchter niedergelassen hatte, die zur Zeit der sagenhaften alemannischen Wanderungen aus dem Norden gekommen und auf ihrem Marsch in Richtung Süden durch die große Alpenkette aufgehalten worden waren. Einige Gruppen von Hirten besiedelten den oberen Teil des Rhonetales und gründeten somit die erste bedeutende, ständige Hochgebirgsniederlassung. Sie mussten Wälder in Weiden und Felder verwandeln, den Unbillen des Winters im Gebirge standhalten, in großer Höhe mit den kargen Reserven des Berges in einer Zeit überleben, in der die mittelalterlichen Geräte und Arbeitstechniken noch primitiv waren und schaurige Geheimnisse die alpine, unwirtliche Welt umgaben.
Ende des 12. Jh. hatten die Nachkommen dieser alemannischen, im Gomstal lebenden Hirten das gesamte Ober Wallis durchkämmt und alte Almen in den Seitentälern der Rhone besiedelt. Sie begannen nun, in die südlichen Täler vorzudringen, womit sie die Walser Bewegung ins Leben riefen.
Im 12.–13. Jh. wurden Sümpfe trocken gelegt und unbebaubare Landstriche urbar gemacht. In den Alpen trugen auch die Wetterverhältnisse zur Entstehung der Ansiedlungen bei: Zwischen dem Vorrücken der Gletscher in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends, die jede Spur der »prähistorischen« Bevölkerung des Hochgebirges gelöscht hatten, und der »kleineren Eiszeit«, die im 16. Jh. begann, war eine lange warme Zeit zu verzeichnen.
Die Ausdehnung der Walser erfolgte in verschiedenen Wanderwellen. Eine erste ging vom subalpinen Wallis aus. Formazza und Gressoney waren die ältesten Siedlungen; es folgten Macugnaga, Remmalju und nach und nach alle Valsesia Talschlüsse. Von Formazza erreichten die Walser Bosco Gurin und die Rätischen Alpen (ab Ende des 13. Jh.), von wo sich die Bewegung (im 14.–15. Jh.) in fast alle höheren Täler Graubündens und Vorarlbergs (Österreich) ausdehnte und auch Tirol und die bayrische Grenze erreichte. Im 13. Jh. drängten weitere Walser Gruppen direkt aus Wallis in die westlichen Berner Täler und nach Ober Savoyen.
Die gesamte Bewegung – die sich auf ganz bestimmte Agrarverträge zwischen (kirchlichen oder weltlichen) Feudalherren und frei gebildeten Siedlergruppen stützte– wurde durch die Gewährung von Ländereien in Erbpacht und durch das sogenannte Siedler recht möglich. Dieses hatte sich zwischen dem 11. und 13. Jh. im großen Schmelztiegel der europäischen Besiedelungen dank des zunehmenden Interesses gebildet, das die Feudalherren und Bauern an der Nutzung unbebauten Landes hatten. Um die Siedler an den Boden zu binden und sie zur harten Arbeit der Rodung zu bewegen, musste ihnen als Vergütung der ungeheuren Mühen die Befreiung vom alten Dienstverhältnis gewährt und der ständige Besitz des fruchtbar gemachten Bodens gesichert werden. Mit dem Tod des Pächters ging nun das Gut auf seine Erben über, die weiterhin einen unveränderlichen, unkündbaren Pachtzins zahlten.
Die Umwandlung des unbebauten Bodens in Ackerland war ein hartes Unterfangen, das viele Jahre Arbeit erforderte: Der Wald wurde gefällt, der Grund urbar gemacht, das Wasser und seine Ableitungen von den Gletschern zu den Weiden reguliert, Geräte, Samen und Zuchttiere den Merkmalen der Umgebung angepasst. Die Walser wandten im alpinen Gebiet das charakteristische Modell der Streusiedlung, der vereinzelt stehenden Selbstversorgerhöfe, an. Die Walser Wirtschaft stützte sich auf das heikle Gleichgewicht zwischen einer kurzen, guten Saison, in der man versuchte, das Meiste aus jeder Erdscholle zu holen, und der kalten Jahreszeit, in der die gesammelten Vorräte den »Winterschlaf« der Menschen und Tiere abdecken mussten. Die notwendigerweise gemischte Wirtschaft stützte sich einerseits auf Viehzucht und Milchverarbeitung, andererseits auf die Landwirtschaft des Hochgebirges. Das zum Überleben des Menschen grundlegende Getreide bauten die Walser auch in extrem hohen Siedlungen an.
Mehr als mit der Viehzucht und Landwirtschaft waren die frühen Walser Ankömmlinge mit der Besiedelungs- und Rodungsarbeit vertraut. Nach der Verwandlung des Bodens in Ackerland und der Errichtung einer gewissen Anzahl von Höfen blieb in der neuen Siedlung zumeist nur ein Sohn der Pionierfamilie zurück. Das Überleben auf dem Hof in einer streng autarken Wirtschaft war oft für mehr als einen Sohn samt Familien unmöglich. Die anderen setzten die von den Vätern begonnene Reise fort und suchten in neuen Tälern nach geeignetem Grund zum Roden und nach Almen, auf denen sie Höfe errichten konnten.
Das obere Valsesia (Pietre Gemelle, Rima, Carcoforo, Remmalju, Kampell) ist ein typisches Beispiel für dieses Besiedlungsmodell »auf Etappen«, das dem Rhythmus der Generationen folgte. Alagna wurde um 1300 von Siedlerfamilien gegründet, die sowohl von Macugnaga, als auch aus dem Valle di Gressoney kamen, wo sich die Walser in verschiedenen Phasen schon seit Anfang des 13. Jh. niedergelassen hatten. Die Siedler von Pedemonte waren von Macugnaga eingetroffen, die von Otro und von der Peccia (im Val Vogna) von Gressoney. Mitte des 14. Jh. war die Besiedlung des Gebietes der alten Pietre Gemelle bereits abgeschlossen, wonach die Walser von Alagna begannen, die angrenzenden Täler Rima und Carcoforo zu erschließen.
Das Mitte des 13. Jh. gegründete Remmalju ist die älteste Walser Niederlassung des Valsesia. Hier gehörten dem Kirchenkapitel von San Giulio seit Anfang des 11. Jh. Teile von Almen (Remmalju und Rondo); diese Besitzungen wurden im Laufe der ersten Hälfte des 13. Jh. erweitert. Die Besiedlung durch eine Gruppe von Walsern auf den Almen von Remmalju und Rondo begann im Sommer 1255, als Giovanni filius ser Petri deTerminion [Visper Terminen], Anselmo de Monte [Valle di Saas] und dessen Sohn Pietro die Almen von San Giulio und das Recht zugewiesen erhielten, eine Mühle zu bauen, was zeigt, dass es sich um eine dauerhafte Besiedelung handelte. In der Zeit vom Sommer 1255 bis zum Herbst 1256 ließ sich in Remmalju eine zweite Gruppe von 11 Siedlern aus den Tälern Saas, Visp und Simplon nieder. Am 11. November 1256 begab sich die ganze Gruppe auf die Insel San Giulio, wo sie im Beisein des Domkapitels eine Siedergesellschaft zur Almnutzung gründete. Die Gesellschaft umfasste 12 Familienanteile, bei Gütergemeinschaft der Weiden, der Wälder und des Wassers. Das Kapitel gewährte den Siedlern das unkündbare Recht, hier zu wohnen, Häuser und Mühlen zu errichten, Holz zu fällen und mit allen Mitteln die Produkte des Berges und des Bodens frei und friedlich zu nutzen. Die Siedler, ihre Familien und ihre Erben erhielten den Status districabiles predicti capituli cum honere et districtu quoad iurisdictionem et contenciosam et voluntariam, d.h. sie übernahmen die volle Jurisdiktion des Dompropstes – nicht mehr und nicht weniger als die Siedler von Macugnaga oder von Alagna, denen die Jurisdiktion der jeweiligen Abteien zustand.
Neben der Bezahlung des Erbzinses von 8 Imperialen am Festtag des Hl. Martin hatten die Siedler dem Kapitel den »Zehnten« der Lämmer, Ziegen oder Schweine, der Getreideernte und der Früchte abzutreten – außer sie wurden gezwungen, sie anderen zu übergeben. Das mussten die friedlichen Walser Bergbauern häufig erdulden. Wie Pergamentschriften des Kirchenkapitels von San Giulio zeigen, raubten die Männer der Pieve di Omegna in Remmalju im Jahr 1260 von den wehrlosen Siedlern 70 Stück Vieh. »Die Bewohner der Almen der Kirche San Giulio dell’Isola« wandten sich danach um Schutz an das Kapitel. Der Propst von San Giulio erwirkte die Strafandrohung der Exkommunizierung der Räuber und Ottone Visconti (der Gründer des Herrscherhauses von Mai land war in jenem Jahr Podestà von Novara) gebot den Männern der Pieve, die friedlichen Bergbauern nicht zu belästigen und zu bestehlen.
Das Archiv des Kapitels San Giulio enthält zahlreiche weitere Urkunden von Remmalju, die aus dem 14. Jh. stammen. Sie betreffen die Rechtssprechung durch das Kirchenkapitel, die Erneuerung des Erblehens von 1255 1256 und die Zahlung des Zinses am Festtag des Hl. Martin: Zu diesem Anlass kamen die Vertreter der Siedler von den Bergen herunter, überquerten mit dem Boot den Orta See und hielten sich auf der Insel zum Mittagsmahl bei den Domherren auf. Einige Pergamentschriften des 14. Jh. liefern Hinweise über die Beziehung zwischen den Siedlern und dem Kapitel oder über die Versammlungen der noch kleinen Gemeinschaft von Remmalju, die in der Kirche San Michele in der Villa gehalten wurden. An der Versammlung von 1335 nahmen 31 Familienoberhäupter teil. Die Rodungsarbeit war noch in vollem Gange, wie der Zuwachs an neuen Siedlerfamilien aus dem Valle di Saas zeigt. Die letzte Urkunde, in der Eigentumsrechte des Kapitels von San Giulio in Remmalju genannt werden, stammt von 1394, als der »Konsul der Gemeinde«, Johannes de Termignono, zum erstenmal den Jahreszins entrichtete.
Ähnlich wie die Siedler von Alagna, die in jenen Jahren ins Val Sermenza zogen, ließen sich im Laufe des 14.–15. Jh. die Walser von Remmalju im oberen Teil des angrenzenden Valle Strona nieder. Im 13. Jh. wurde der Talschluss (bereits »seit urdenklichen Zeiten«) als Sommeralm des Klosters San Graciniano von Arona genutzt, in dessen Archiv (heute im Staatsarchiv von Turin) ein Dutzend Urkunden von 1200–1400 verwahrt sind, anhand derer die Situation der Almnutzung im derzeitigen Gebiet von Kampell rekonstruiert werden kann.
Ende des 13. Jh. erfolgte der Auftrieb der Herden vom Orta See; das Vieh erreichte die Weiden des Capezzone, nachdem es auf Zillen über die Toce befördert worden war und den Pass von Ravinella überquert hatte, der das Valle Strona mit dem unteren Ossola verbindet. Zu Beginn des 14.Jahrhunderts wurden den Siedlern die Almen von San Graciniano – zum Jahreszins von drei Gulden und einem »Mascarpino« (kleiner Mascarpa) für die Herren von Crusinallo, Mittelsmänner zwischen dem Abt und den Almbenutzern – überlassen. Die Crusinallo hatten hier dieselbe Rolle als Vögte, wie sie die Visconti in Macugnaga ausübten, wo die Alm ebenfalls den Benediktinern von Arona gehörte. Im Jahr 1338 entbrannte ein Streit zwischen dem Kloster und den Crusinallo, den Herren zahlreicher Ländereien im Valle Strona. Ursache des Streits, bei dem es um die Verwaltung der Almen ging (nähere Umstände sind jedoch nicht bekannt), war möglicherweise die Konzession der Klosteralmen für die Walser Siedler von Remmalju.
Nach 1338 wurden die Konzessionen der drei Almen (Capezzone, Pennino und Penninetto) auch wieder den Walsern von Remmalju gewährt. Die Pachtverträge, die zu verschiedenen Zeiten für einzelne Siedler abgeschlossen wurden, weisen jedoch immer noch eine Dauer von neun Jahren auf. Auch 1432, als der Abt die drei Almen des Klosters dem Milano, »Nigro« genannt, Sohn des Antoniolo della Rocca, Bewohner von Varallo, um den Jahreszins von 22 Imperialen und 12 Pfund Mascarpino überließ, betrug die Pachtdauer noch neun Jahre.
Milano della Rocca, Vertreter einer Adelsfamilie des Valsesia, taucht in der Urkunde nicht als Vertreter der Hirten auf, die die Almen nutzten, sondern in der Eigenschaft als Mittelsmann zwischen dem Abt von Arona und den Walsern von Remmalju. Es war Sitte, dass die Pachtverträge der Klostergründe nicht direkt vom Abt, sondern von Vermittlern abgeschlossen wurden, die für die Verwaltung der Almen und für die Einhebung des Zinses sorgten. In gewisser Weise waren sie »Auftraggeber« der Bodennutzung (in diesem Fall der Almen); sie händigten dem Kloster den Konzessionszins aus und sicherten den reibungslosen Vertragsverlauf, die Führung des Unternehmens, die Einhaltung der Grenzen, die Instandhaltung und Verbesserung der Alm. Diese Mittelsmänner zwischen den Kirchenfürsten und den Sennern (in manchen Fällen auch »Treuhänder« genannt) ähnelten dem Vogt. Den Abt, der als Prälat nicht persönlich die vielen ihm zukommenden Rechts und Verwaltungsfunktionen ausüben konnte, vertrat für gewöhnlich ein weltlicher Vogt bei den zahlreichen Geschäften der Vermögensverwaltung und insbesondere der Grundverträge. Üblicherweise erfüllten die Mitglieder ein und derselben Familie die Aufgaben des Vogtes in Erbfolge. Interessanterweise wurden im Valsesia in der ersten Hälfte des 15. Jh. die Vertretungsfunktionen sowohl des Mensalgutes des Bischofs von Novara, als auch des Klosters San Nazaro von Biandrate vorwiegend von der Familie della Rocca (Roccapietra) ausgeübt, von der Milano »Nigro« abstammte, der bei den genannten Verträgen als Verwalter der Almen des Klosters von Arona auftrat, die von den Walsern von Remmalju genutzt wurden. Zweifellos lag der gleichzeitigen Präsenz der Familie bei der Verwaltung von Almen mehrerer Klöster im Valsesia ein einheitlicher Plan zugrunde, nämlich die Absicht, mit der Walser Besiedlung diese höher gelegenen Ländereien besser zu nutzen.
Auch im letzten neunjährigen Konzessionsvertrag der Almen Capezzone, Pennino und Penninetto aus dem Jahr 1442 erscheint als Beauftragter Milano »Nigro« della Rocca. In dieser Urkunde von 1442, in der genau die Grenzen der Klosterbesitzungen beschrieben sind, erscheint zum ersten Mal der Ortsname »Campello«: »ab una parte alpis Cayme [Cama], ab alia territorium de Campello, ab alia flumen Strone, ab alia alpis Agaroni [Nagarone], ab alia alpis Zevie [Cevio], ab alia alpis Ronde [Ronda], ab alia alpis Scarampogli [Scarpignano], ab alia alpis Cardeli, ab alia alpis Reorte et ab alia alpis Binerere [im Valle Anzasca]«. Es ist meiner Ansicht nach aus mindestens zwei Gründen auszuschließen, dass Kampell damals eventuell schon von Siedlern aus dem Stronatal bewohnt war. Erstens war der Ortsname vor jenem Jahr im Zusammenhang mit den Almen des Klosters nie aufgetaucht. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass es eine wichtige Stätte war, wie es ein bewohnter Ort notwendigerweise ist. Zweitens umfasste das verpachtete Klostergebiet, wie aus Verträgen hervorgeht, einen so weiten Raum von den Bergkämmen bis zum Wasser des Strona, dass als »territorium de Campello« nur ein kleiner, schmaler Streifen zwischen den Weiden und dem Wildbach blieb: vermutlich ein bescheidenes Feld (ital. »campicello«). Auch die Verkleinerungsform hat sicher ihre Bedeutung. Eine ständige Siedlung von Kampell ist deshalb schwer vorstellbar, außer in Verbindung mit der Nutzung der Klosteralmen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass 1442, als der Name »Campello« erschien, die Walser von Remmalju, die die Almen des Klosters von Arona nutzten, an der besagten Stelle bereits eine primitive Siedlung errichtet hatten. Dazu sind analoge Beispiele zu nennen: Man denke bloß an Bosco Gurin im Valle Maggia, und auch an Carcoforo im Valsesia. Wahrscheinlich entstand auch in Kampell, wie in Bosco und Carcoforo, die primitive Siedlung am Fuße der Alm, als eine Art Umschlagplatz an der Grenze zu den Weiden: eine Stätte außerhalb des Klosterbereichs, an der es leichter war, den Boden als »Eigentum« zu erwerben – eine wichtige Voraussetzung für die Errichtung fester Wohnhäuser.
So wie bei den beiden Talschlüssen des Val Sermenza (Rima und Carcoforo) ist anzunehmen, dass Familien von Remmalju, die die Almen des Klosters nutzten, ihre Wintersiedlungen in Kampell anlegten und dass sich in jenen Jahren – in der ersten Hälfte des 15. Jh. – die ständige Walser Niederlassung entwickelte. Dass in jener Zeit im oberen Valle Strona etwas Wichtiges, Entscheidendes vor sich ging, wird auch aus einer Urkunde von 1448 ersichtlich, mit der die neunjährige Pacht der drei Klosteralmen in einen unkündbaren Pachtvertrag verwandelt wird und der Konzessionsinhaber nicht mehr ein Mittelsmann wie Milano della Rocca, sondern direkt die Walser Gemeinschaft von Remmalju ist.
Am 21. November 1448 beurkundete der Abt Sorino de Balbis vor dem Klosterkapitel von San Graciniano und Felino di Arona feierlich die »unkündbare Erbpacht des Angelino Sohn des verst. Giovanni Bagossi von Remmalju und den unkündbaren Erpachtzins« in Bezug auf die ungeteilte Hälfte der Almen »Capesoni, Penini und Penineti im Gebiet Valle Strona, Pieve di Omegna, Diözese von Novara«; Angelino übernimmt das Recht im Auftrag der gesamten Gemeinschaft von Remmalju und verpflichtet sich, für immer alljährlich am Tag des Hl. Martin in Varallo dem Vertreter des Abtes den Erbpachtzins von 12 Imperialen zu entrichten.
Aus der Urkunde geht nicht der Grund hervor, warum die Erbpacht bloß die ungeteilte Hälfte betrifft, während sich die früheren Verträge auf die gesamte Alm bezogen. Es ist jedoch angezeigt, näher auf eine andere hervorstechende Passage der Urkunde einzugehen, die grundlegend für die Geschichte von Kampell ist. Im Dokument heißt es, dass die Berechtigung mit der Genehmigung des Propstes von Borgosesia, dem »apostolischen Kommissar und Delegat des Papstes Nikolaus IV.«, und kraft des päpstlichen Schreibens erteilt wird, das in Rom am Sankt Peter Tag im Jahr 1448 ausgestellt wurde. Kommissar und Delegat in welcher Funktion? Offenkundig um sicherzustellen, dass die Umwandlung des neunjährigen unkündbaren Vertrages nicht den Interessen des Klosters schadete. All dies wird nur verständlich, wenn man berücksichtigt, was im Valsesia wenige Jahre vorher in Bezug auf die Almen des Mensalgutes des Bischofs von Novara geschehen war. Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass auch in jenem Fall der apostolische Kommissar der Probst von Borgosesia war.
Die Angelegenheit des Mensalgutes ist so gut belegt, dass ich wegen der außergewöhnlichen Analogie zum Fall von Kampell kurz darauf eingehen möchte. Bis Anfang des 15. Jh. wurden auch die Almen des bischöflichen Mensalgutes Jahr für Jahr an Senner verpachtet, die dort im Sommer ihre Herden weideten. Erst in jenen Jahren gestattete der Übergang von der temporären auf die immerwährende Konzession den Walsern die systematische Umwandlung der Almen in ständige Siedlungen. Dieser Übergang wird sehr gut durch eine Pergamentrolle belegt, die im Historischen Diözesanarchiv von Novara verwahrt ist (und die ich in meinem jüngsten Band Carcoforo, Fondazione Monti, 1994, behandelt habe).
Im Jahr 1419 beauftragte Papst Martin V. im Anschluss an eine spezielle Anfrage des Bischofs von Novara, Pietro de Giorgi, den Propst von Borgosesia, Antonio de Raxellis, mit der Untersuchung, ob es für den Bischof laut dessen Angaben tatsächlich günstiger sei, Verträge temporärer Pacht durch unkündbare Erbpacht zu ersetzen. Nach Aussage des Bischofs ginge es de facto darum, den »nutzbringenden Besitz« dieser Almen aufzugeben und sich darauf zu beschränken, den »wirklichen Besitz« beizubehalten, d.h. die nackte Inhaberschaft (das Ertragseigentum, wie es die Juristen nennen, um den Verlust jedes anderen Rechtes außer des unkündbaren und unveränderlichen Zinses zu betonen). Die unkündbare Pacht sollte dem Bischof größeren Gewinn aus der Almnutzung bringen, für die Alm selbst würde sie eine zielführende Rodung und Besiedelung bedeuten. Die Genehmigung einer gewiss relevanten Änderung der rechtlichen Handhabung von Gütern, die seit Jahrhunderten bischöfliches Mensalgut waren, stand dem Papst zu. Da dieser die Stätten und die wirtschaftlichen Vorteile der geplanten Umwandlung des Grundrechts nicht kannte, beauftragte er vor Ort einen Delegaten mit dem Problem: den Propst von Borgosesia. Die Urkunde des folgenden Untersuchungsverfahrens ist in gewisser Hinsicht die aufschlussreichste der gesamten Walser Siedlungsgeschichte. Die Rechtshandlung erfolgte am 30. Juli 1420 im Amtsgebäude der Gemeinde Orta. Im Beisein des bischöflichen Vertreters, der Zeugen und des Notars legte der päpstliche Delegat, Antonio de Raxellis, Propst von Borgosesia, die päpstlichen Briefe vor. Er vergewisserte sich, ob die Konzession dieser Almen an Siedler in unkündbarer Pacht dem Interesse des bischöflichen Mensalgutes entsprach und befragte zu dem Zweck sieben Zeugen, die unter besonders glaubwürdigen und kompetenten Personen gewählt worden waren. Die dokumentierten Begründungen der sieben Berufenen sind zwar nicht allgemein bekannt, gehören aber zu den wertvollsten Zeugnissen nicht nur der Besiedelung im Valle Sermenza, sondern auch der Beweggründe für das gesamte Wirken der Walser zur Umwandlung der Hochgebirgsweiden in ständige Siedlungen. Diese authentischen Aussagen, die auf Beginn des 15. Jh. zurückreichen, sind die beste Antwort auf die alte Frage, »wer sind die Walser und welche wirtschaftliche oder soziale Motivation war die Grundlage für ihr umfassendes Besiedelungswerk?«.
Einer der Zeugen ist Antonio Draghetti von Varallo, der über dreißig Jahre lang direkte Erfahrungen als Vermittler von Verpachtungen im Auftrag des bischöflichen Mensalgutes gesammelt hatte. Auf die Frage, welchen Nutzen die Aufgabe der alten Gebräuche temporärer Pacht brächte, antwortete er, dass die Siedler nach Erhalt der Gründe in Erbpacht dort Häuser und Höfe bauen, Felder und Wiesen urbar machen würden und dass der Ertrag der Siedler und der Mensalgüter somit steigen würde. Das bedeutendste Zeugnis war jedoch das eines Walsers von Pietre Gemelle, Giovanni Manetta des verst. Zanoli. Nach der Aufforderung, sich zur Walser Sitte der Übernahme von Almen in unkündbarer Pacht und ihrer Umwandlung in ständig bewohnte Hochgebirgshöfe durch Rodung zu äußern, antwortete er: »Es stimmt: Wenn der Siedler einen Boden auf befristete Zeit in Pacht erhält, bemüht er sich nicht um Verbesserungen der investierten Güter. Wenn er hingegen den Boden in unkündbarer Pacht erhält, dann führt der Erbpächter, auch Siedler genannt, umfassende Verbesserungen an den Almen durch, macht den Boden fruchtbarer und erzielt eine reichere Ernte, was auch dem Bischof zum Vorteil gereicht, der höheren Pachtzins erhält, und er wäre gerne bereit, die Almen um den genannten Zins in Erbpacht zu übernehmen und würde sich um ihre Verbesserung bemühen«. Das Urteil des Propstes von Borgosesia, mit dem das Verfahren von Orta ab- geschlossen wurde, konnte nur eine Zustimmung zur Vergabe der Almen in unkündbarer Erbpacht sein.
Kampell: 1904
Dasselbe musste wenige Jahre später, 1448, für die Almen der Benediktiner von Arona in Kampell geschehen sein. Die Personen waren dieselben (der Propst von Borgosesia, die Della Rocca …), wie auch das Verfahren der päpstlichen Genehmigung, die Begründung und der Zweck einer Umwandlung der temporären in unkündbare Pacht. Die reichhaltigen Unterlagen, die die Almen der Mensalgüter von Novara im Valsesia betreffen, klären bei analoger Anwendung auf den Fall Kampell vor allem den großen »Nutzen«, den alle – Konzessionsgeber und Konzessionsinhaber – aus der Walser Besiedelung durch Rodung und Gründung einer Niederlassung in Kampell schöpften.
Als neun Jahre später, am 12. November 1457 – wie eine Pergamentschrift des Klosters von Arona zeigt, die heute im Borromeo-Archiv verwahrt ist (Archivio Borromeo Isola Bella, Corporazioni Religiose, Arona, Kloster San Graciniano) – der neue Abt Francesco Borromeo die Einhebung des Erbpachtzinses von der Gemeinschaft von Remmalju für die Almen von Kampell übernahm – erschien Kampell noch nicht unter den aufgezählten Orten des weiten Bergbezirks vom Bergkamm »usque in aqua seu valle« des Strona: Dies zeigt, dass sich die neue kleine Walser Gruppe, die aus der Gemeinschaft von Remmalju hervorgegangen war, in jenen Jahrzehnten des 15. Jh. erst entwickelte.
Diese seltenen, wertvollen Urkunden des Klosters von Arona werfen somit ein wenig Licht auf das Eintreffen der Walser in Kampell und weisen auf einen Ursprung hin, der sich nicht stark von dem unterscheidet, den die Überlieferung schildert und der in handschriftlichen Aufzeichnungen von Kampell aus dem 18. Jh. festgehalten ist. Laut diesen Angaben »war der Ort ursprünglich eine Alm der Bewohner von Remmalju, die gezwungen waren, sich mit ihrem Vieh im Winter wegen verfrühten Schneefalls hier auf- zuhalten und später ständig hier wohnten«. (Enrico Rizzi, Zitatende)
Die autonome Gemeinde Kampell bestand 115 Jahre lang, vom 7. Dezember 1814 bis zum 18. Februar 1929.
Der erste offizielle Rechtsakt der neugegründeten Gemeinde Kampell erfolgte am 7. April 1815 mit der Wahl des ersten Bürgermeisters, Francesco Guglianetti, Sohn des verst. Antonio, und zweier Räte.
Seit damals wechselten einander viele Bürgermeister in der Führung des kommunalen Lebens dieses kleinen Ortes im oberen Valle Strona ab und nahmen dabei Schwierigkeiten aller Art in Angriff, wie Probleme im Bereich der Umwelt, des Sozialen, der Wirtschaft und andere.
Die Umgebung bildete stets eine Bedrohung für die Bewohner von Kampell, die auch in der Zeit der Gemeindeautonomie mehrmals von schweren Unglücksfällen heimgesucht wurde. Im Jahr 1834 zerstörte eine Überschwemmung des Gabbio die restlichen Häuser, die von einem riesigen Erdrutsch 1701 verschont geblieben waren.
Am 14. März 1837 ging eine große Lawine über dem Ort ab und riss viele Häuser nieder. Am 1. März 1843, am Aschermittwoch, entbrannte ein schreckliches Feuer, das 15 Häuser ganz zerstörte und weitere 28 beschädigte; es ergab sich ein nachgewiesener Schaden in Höhe von 87.000 neuen Piemonte-Lire.
Die Bewohner von Kampell wurden zwar von diesen Katastrophen schwer getroffen, reagierten jedoch immer mutig und hielten durch, was angesichts der Bevölkerungs- und Wirtschaftslage sicher nicht leicht gewesen sein kann. Und doch gelang es ihnen, ihr Wirken fortzusetzen und sogar eine positive Bilanz der Gemeinde zu erzielen.
Der letzte Bürgermeister von Kampell, Enrico Tensi, übergab dem neuen, Comm. Costantino Cane, sämtliche Aktiva des Ortes, die sich folgendermaßen zusammensetzten: 60.900 Lire aus dreizehn Ertrags- und Konsolmappen, Jahreseinkommen 1760 Lire; ca. 33.000 Lire, Bilanzrest zusätzlich zum Kassenbestand;
ca. 28.000 Lire aus elf Mappen, Jahresertrag 1.546,50 Lire, der später wegen einer Senkung des Zinssatzes des Wohltätigkeitsvereins und damit verbundener Hinterlassenschaften ein wenig gekürzt wurde.
Der gesamte Bestand der Nutzwälder, die seit Jahrhunderten gepflegt wurden und einen beträchtlichen Wert darstellten.
Die Ausgabenreste von Kampell sind vernachlässigbar klein.
(Quelle: Don. G. Zolla, A. Tensi, Campello Monti, Omegna, 1940, S. 163)
Betrachten wir nun den Bevölkerungsstand und die wirtschaftliche Situation in der Zeit der Kommunalautonomie von Kampell, 1813–1928
Jahr | In Kampell wohnhaft |
|
1813 | 192 | aus dem Archiv Zolla-Tensi |
1818 | 197 | Archiv von Valstrona |
1820 | 195 | ebd. |
1823 | 198 | ebd. |
1825 | 198 | ebd. |
1830 | 175 | ebd. |
1850 | 118 | aus dem Archiv Zolla-Tensi |
1861 | 85 | Staatsarchiv Verbania, Volkszählung von 1861 Archiv Valstrona |
1861 | 104 | aus dem Werk "Demografia Provinciale" |
1871 | 95 | aus dem Werk "Demografia Provinciale" |
1880 | 84 | aus dem Archiv Zolla-Tensi |
1881 | 84 | aus dem Werk "Demografia Provinciale" aus dem Werk "Demografia Provinciale" |
1901 | 73 | aus dem Archiv Zolla-Tensi |
1911 | 66 | aus dem Werk "Demografia Provinciale" |
1921 | 79 | aus dem Werk "Demografia Provinciale" |
1925 | 54 | aus dem Archiv Zolla-Tensi |
1928 | 54 | aus dem Archiv Zolla-Tensi |
Die Tabelle zeigt anhand verschiedener Quellen die Bevölkerungssituation von Kampell von 1813, dem Jahr vor der Kommunalautonomie, bis 1928, dem Jahr vor der faschistischen Verwaltungsreform.
Für 1861 sind die Daten jedoch uneinheitlich. Es liegen hier zwei Zahlen vor: 85 und 104. Die erste scheint im Staatsarchiv von Verbania unter den Schlusswerten der Volkszählung des betreffenden Jahres auf, sowie im Gemeindearchiv von Valstrona in der Sektion des Historischen Archivs von Kampell, wo sowohl die Ergebnisse der Volkszählung von 1861, als auch die entsprechenden Familienblätter vorliegen. Hierbei herrscht Übereinstimmung.
Die zweite Zahl, 104, ist nur im Text »Demografia Provinciale« zu finden, weshalb sie zwar in die Tabelle aufgenommen, aber nur zum Teil in Betracht gezogen wurde, da die Zahl 85 besser belegt ist.
Die Tabelle zeigt einen Rückgang der Bevölkerung von Kampell im Laufe der 115 untersuchten Jahre.
Von 1813 bis 1825 beträgt die durchschnittliche Einwohnerzahl 195, was ein relatives Gleichgewicht seit 1749 bedeutet, als 190 Einwohner gezählt wurden.
Die Situation ändert sich ab 1830, als 175 Einwohner erfasst werden; der Rückgang sollte sich mit einem Schwund um fast 60 Personen in rund 20 Jahren noch verschlimmern. Im Jahr 1850 wurden in Kampell 118 Einwohner bei insgesamt 38 Familien gezählt. Der Text Zolla-Tensi gibt auch die Streuung der Personen und Familien in den einzelnen Ortsteilen an: Kampell Mitte 22 Familien mit 66 Personen, Waud 1 Familie mit 7 Personen, Tapòn 7 Familien mit 22 Personen, Pianpennino 8 Familien mit 23 Personen.1 Im Zeitraum von 37 Jahren hatte sich ein Rückgang von 74 ergeben. Es waren die dramatischen Jahre der Lawinen, der Überschwemmungen und des großen Brandes von 1843. Viele Menschen verloren ihr Leben, die Häuser zahlreicher Familien wurden zerstört, das Vieh kam um, weshalb es denkbar ist, dass manche fortzogen, um anderswo neu zu beginnen.
Die erste Allgemeine Volkszählung des Königreichs Italien von 1861 ergab in Kampell 85 Einwohner, d.h. in bloß 11 Jahren 33 weniger.
Aus den Familienblättern wird ersichtlich, dass im Hauptort Kampell 24 Familien mit 56 Personen lebten, im Ortsteil Waud 1 mit 6 Personen, im Ortsteil Tapòn 4 mit 10 Personen, im Ortsteil Pianpennino 6 mit 13 Personen. Dank dieser Urkunden erfahren wir, dass 33 Einwohner von Kampell im Ausland wohnten. Ihre Namen sind im Familienblatt, doch in einer eigenen Sektion eingetragen; sie wurden bei der Volkszählung nicht berücksichtigt, da sie im Ausland lebten.
Hochinteressant ist, dass 33 Auswanderer aufscheinen – genau die Zahl, um welche die Bevölkerung ab 1850 zurückgegangen ist. Da wir aber für 1850 über keine Familienblätter verfügen, kann es sich hierbei auch um einen Zufall handeln.
Fest steht, dass von den 33 Auswanderern 26 Männer und 7 Frauen (Gattinnen und junge Töchter der Emigranten) waren. Diese Arbeiter gehörten verschiedenen Altersstufen an: von den jüngsten im Alter von 12–15 Jahren, über viele 25–30-jährige Männer, bis zu älteren von über 60 Jahren. Zum Großteil handelte es sich um Junggesellen, doch befanden sich auch einige verheiratete unter ihnen, von denen nur drei die Gattinnen mit sich nahmen. Folgende Berufe werden genannt: Hart- und Weichzinnarbeiter, Kurzwarenhändler, Drechsler, Steinzeichner, Ladengesellen und Fabriksarbeiter. Die Reiseziele: Bayern, Turin, Paris, Mailand, Chivasso, Forno.2
Für 1871 scheinen 95 Einwohner auf, was einem Anstieg um 10 entspricht. Im Jahr 1881 sinkt die Zahl wieder auf 84, mit folgender Aufteilung: 13 Familien mit 56 Personen in Kampell Mitte, 5 Familien mit 11 Personen in Tapòn, 6 Familien mit 17 Personen in Pianpennino; an keiner Stelle taucht der Ortsteil Waud auf, was darauf schließen lässt, dass zur damaligen Zeit niemand mehr dort lebte.3
Da Daten zum Jahr 1891 fehlen, müssen wir 1901 betrachten: Diesbezüglich nennt das Werk Demografia Provinciale 73 Einwohner. Dieselbe Quelle gibt für 1911 einen Rückgang auf 66 Personen und für 1921 die Zahl 79 an. Die Statistik Zolla-Tensi spricht für 1925 von 54 Einwohnern, für 1928 ebenfalls von 54. Die historischen Informationen zu diesen Jahren konnten im Archiv von Valstrona nicht gefunden werden, weshalb nicht bekannt ist, wer zu der Zeit in Kampell lebte. Dieser Überblick lässt einen alarmierenden Bevölkerungsstand erkennen: Im Zeitraum von 115 Jahren schrumpfte die Gemeinde Kampell von 192 Einwohnern auf 54, verlor demnach 138 Einwohner.
Ab 1928 war die Abwanderung konstant und unaufhaltsam, was schließlich das Ende der Ortschaft bedeutete.
____________
1 Don G. Zolla, A. Tensi, Campello Monti, 1940, S. 91
2 Gemeindearchiv Valstrona, Abteilung Historisches Archiv von Campello Monti, Censimente Generale della Popolazione del Regno di Italia, 1861, Mappe 68, Fasz. 2, Paket 1.
3 Gemeindearchiv Valstrona, Abteilung Historisches Archiv von Kampell Monti, Censimente Generale della Popolazione del Regno di Italia, 1861, Mappe 68, Fasz. 3, Paket 1.
Die wesentlichen Wirtschaftszweige der Einwohner von Kampell waren mit der Umgebung verbunden: Landwirtschaft und Viehzucht. Die Siedler waren aber auch ausgezeichnete Holzhandwerker und -zuhauer, Drechsler, Hartzinnarbeiter. In Momenten der Krise wanderten sie aus und verdienten sich durch diese wertvolle Handwerkstradition ihren Lebensunterhalt.
Im 19. Jh. kam zum alten Gewerbe die Beschäftigung in Nickel- und anderen Bergwerken hinzu, die Handlangern und Knappen Arbeit boten.1
Eine nennenswerte, ganz eigene Einnahmequelle für die Kassen der Gemeinde oder der Pfarre waren die Hinterlassenschaften von Kampellern, die keine Erben hatten.
All diese wirtschaftlichen Aspekte sind – mit Ausnahme des Bergbaus – für die gesamte Geschichte von Kampell dieselben. Die meisten Daten, die im Archiv von Valstrona gefunden wurden, stammen jedoch aus der jüngeren Geschichte, nämlich aus der Zeit ab 1930. Für die Periode der Kommunalautonomie können wir uns nur auf statistische Daten von 1818-1835 stützen.2
Die Landwirtschaft war für Kampell wegen des rauen Klimas und der zu steilen Berghänge nie eine wahre Einkommensquelle.
Die Ansiedlung dehnte sich zwar über gut 1288 ha aus und stand deshalb an Größe nur Forno (1815,83 ha) nach, doch besaß sie wegen der hohen Lage, 1305 m ü.d.M., und der Geländebeschaffenheit keinerlei Ackerland, während sich die Weiden, Wälder und vor allem die unbebauten oder nicht ertragsfähigen Gründe relativ weit erstreckten.
Ein unleugbarer Reichtum des Valle Strona und Kampells war der Waldbestand.
Das Holz, das die Kampeller Bevölkerung in entfernter Vergangenheit als Baumaterial für die Innenausstattung der Wohnungen nutzte und das eine Einnahmequelle für die Händler war, wurde nach der Abfassung der »Bandi Campestri« zu einem Gut, das eine umsichtige Nutzung erforderte. Der Wald war der einzige Lawinenschutz, weshalb ihn alle schonen und achten mussten.
Dank dieser umweltbedingten Politik der Kampeller häufte die Gemeinschaft hier im Laufe der Jahrhunderte ein enormes Vermögen an, das die bedeutendsten Einnahmeposten der kommunalen Haushaltsbilanzen ergab.
Im Zeitraum 1917-20 belief sich der Ertrag aus dem Verkauf von Schnittholz der Gemeindewälder auf 42.250,03 Lire, während zum Beispiel die Gemeindesteuer auf Vieh 4.130,94 Lire betrug. Der Verkauf von Holz deckte alleine sämtliche Ausgaben der Siedlung.3
Die Bevölkerung sicherte sich – unter beachtlichen Mühen – ein Mindestmaß an Produkten für den Eigenbedarf, wie etwa Kartoffeln, Rüben, Bohnen und Heu für die Tiere.Jede Familie besaß auch in Nähe des Hauses ein Gemüsegärtchen.
Eine Gelegenheit zum Tausch der eigenen Erzeugnisse mit anderen notwendigen, die man nicht selbst produzierte, war der Markt von Omegna am Donnerstag.4 Die Frauen verkauften: Käse, Butter, Eier, Milch, Säcke voll getrockneter Buchenblätter für die Matratzen der Kinder. Mit dem erworbenen Geld kauften sie Mehl, Brot, Reis und andere Lebensmittel, sowie Stickgarn und Leinen für die Aussteuer der Mädchen.
Kartoffeln und Heu waren die einzigen Produkte, auf die sich die Landwirtschaft von Kampell stützte. Die Verwalter vermerkten in der Hinweisspalte der Statistiken Folgendes: »In der Gemeinde Kampell erfolgt kein Anbau von Weizen, Roggen, Gerste, Mais oder anderen Sorten, es wird nur Heu eingeholt.«5 Außerdem hielten sie fest: »Kein Anbau von Weizen, Roggen, Gerste, Mais, Hirse, Weichseln, Hanf, Kastanien, Hafer, Nüssen, Wein und keine Zucht von Pferden, Mauleseln.6«
Dass die Klimaverhältnisse für die Produktion ausschlaggebend sind, wird auch von den Verfassern der Statistiken hervorgehoben, wie wir aus einigen Notizen ersehen. Der Großteil der Heuproduktion ist einem schönen Herbst zu verdanken, der einen mehrmaligen Schnitt ermöglicht, während Knappheit an Kartoffeln einem kalten Frühjahr zuzuschreiben ist.
Interessant ist für 1818 ein Hinweis auf die Heuarten, der leider für die anderen Jahre nicht vorliegt.
Die Viehzucht war in Kampell ein alter Wirtschaftszweig. Der Überlieferung nach wurde die Siedlung von Hirten gegründet, die sich auf der Suche nach neuem Weideland befanden. An Orten wie diesem, der sich durch karge Landwirtschaft auszeichnet, ist die Viehwirtschaft aber auch gar nicht wegzudenken.
Es wurden Rinder, Ziegen und Schafe gezüchtet, wobei strenge Vorschriften für das Weiden herrschten. In den Regeln von Kampell von 1792 heißt es, dass das Weiden von Vieh auf der Alm erfolgen muss; demnach war es auf den üppigen oder mageren Wiesen verboten, auch wenn sie Privateigentum waren oder nahe den Gemüsegärten lagen. Diese Bestimmungen und die hohen Strafen bei Übertretungen waren erforderlich, um das Überleben der Ansiedlung zu sichern.
Die Bergwirtschaft der Walser – und nicht nur ihre – war notwendigerweise eine Kombination von Landwirtschaft, Viehzucht und Weidewirtschaft, d.h. eine »Alpwirtschaft«.7 Die Produktionsstätten waren die Gebiete in Dorfnähe und die Hochgebirgsweiden, d.h. die Almen.
Dies gestattete eine bessere Nutzung der Vegetation, deren Lebenszyklus von der Höhe abhängt.8
Das an das sommerliche Erwachen der Natur gebundene Almleben bestand aus harter Arbeit aller, da die größtmöglichen Reserven für den langen Winter gesammelt werden mussten. Die Tage begannen vor dem Morgengrauen mit dem Melken des Viehs, wonach alle Herden auf die Weide getrieben wurden und man mit der Käseerzeugung begann. Müde von der Arbeit versammelte sich abends die Familie beim Lampenschein, um Geschichten zu erzählen oder zu beten.
Der einzige konstante, aktive Träger der Almwirtschaft war jedoch die Frau.9 Die Männer zogen auf der Suche nach besserem Einkommen fort oder blieben im Dorf, um die Felder zu bestellen. So waren die Frauen mit den kleineren Kindern und den älteren Angehörigen die einzigen Bewohner der Almen. Alle Arbeiten, auch die schwersten, lasteten auf ihnen, da sie alleine sich in der gegebenen Situation ihnen widmen konnten.
Dieses Modell der individuellen Almwirtschaft ist relativ häufig in der Walser Gesellschaft, während andere alpinen Gemeinschaften nicht die gesamte Bevölkerung auf die Alm versetzten, sondern einen »professionellen« Hirten damit beauftragten, auf dem Berg sämtliche Tiere des Dorfes zu hüten.10
Die zahlreichen Almen um Kampell lagen auf verschiedener Höhe und waren unterschiedlich groß; Jahrhunderte lang bildeten sie den wahren Reichtum der Ansiedlung, die in unmittelbarer Nähe wenige Weiden hatte;11 die Hochgebirgswiesen konnten vor allem auch große Mengen Vieh aufnehmen.
Die Almen waren die ersten, die die Erscheinung der allmählichen Bergflucht nach dem Krieg verspürten, denn sie wurden als erste ihrem Geschick überlassen.
Heute bestehen sehr viele Sennereien nicht mehr: Sie wurden von Lawinen fortgerissen oder sind nur noch als Trümmer erhalten, einige wurden in touristische Berghütten verwandelt und verloren die ursprüngliche Funktion, sehr wenige sind Almen geblieben.
Das Aussterben der Senner bedeutet nicht nur das Schwinden einer markanten Figur, sondern kommt auch einem Verlust der Bindung zum Berg gleich. Der Senner empfing nicht nur die Gaben der Hochgebirgsweiden, sondern machte den Berg durch sein Wirken sicherer und förderte die Beibehaltung des natürlichen Gleichgewichts.
In Kampell, wie im gesamten Valle Strona, sind Metalladern vorhanden. Drei Mineralien wurden abgebaut: Limonit (Eisenhydroxyd), Magnetkies (Schwefeleisen) in Verbindung mit Kupferkies (Schwefeleisen und -kupfer) und Pentlandit (Nickel- und Eisensulfid). Im letzten Jahrhundert wurde in der Walser Ortschaft auch eine kleine Goldader entdeckt, wo jedoch das Gold mit Pyrit verbunden und nicht mit freiem Auge erkennbar war.
Mitte des 19. Jh. begann die Ausbeutung der Lager, die jedoch vor Ende des Jahrhunderts eingestellt wurde. Erst in der Zeit der Autonomie und im Zweiten Weltkrieg, also von 1936 bis 1943, wurde wieder Bergbau durch die Società Nichelio e Metalli Nobili betrieben, die auf eigene Kosten den Maultierpfad Forno-Kampell erweiterte und befahrbar machte, um den Materialtransport zu ermöglichen. Der Abbau endete 1944.12
Das Bergwerk war in den Jahren des Betriebs eine bedeutende Einnahmequelle für den Ort: Die Männer arbeiteten im Erzabbau, die Frauen transportierten die Mineralien auf dem Rücken bis Forno, da die Fahrstraße noch nicht bestand. Außerdem lockte die Grubenarbeit mehrere Familien aus verschiedenen Gegenden nach Kampell, was beim Durchsehen der Familienblätter der neuen Einwohner ersichtlich wird, wo bei den Männern als Beruf »Knappe«13 steht.
Wie es auch heute noch im gesamten Valle Strona der Fall ist, war das Handwerk dank der Qualität der Produkte stets ein treibender Faktor der Wirtschaft.14 In Kampell diente diese Tätigkeit zur Aufbesserung der Einnahmen aus der Viehzucht und der Weidewirtschaft.
Holzverarbeitung
Die Männer waren bei der Holzverarbeitung sehr geschickt. Sie schufen Werkzeug und Haushaltsgeräte.
Viele Kampeller übernahmen den Beruf des Tischlers vom Vater oder erlernten ihn im Dorf, dann zogen sie ins Ausland und wurden eine gute Einnahmequelle für die gesamte Familie.
Auch viele Drechsler verließen den Ort, um als Wanderhandwerker Geräte zu reparieren oder herzustellen.
Zinnverarbeitung
Im Bereich des Handwerks war die Zinnverarbeitung im gesamten Valle Strona die meistverbreitete Tätigkeit, weshalb man von einer wahren Schule der Zinnfachleute in diesem Tal sprechen kann.
Die Verarbeitung dieses Materials war in Italien – abgesehen vom Aostatal, wo sich ausländische Einflüsse bemerkbar machten – nicht stark verbreitet. Wahrscheinlich erlernten die Talbewohner den Beruf im Zuge der Auswanderung.
Es wurden Töpfe, Teller, Krüge, Karaffen, Kerzenhalter, Öllampen, religiöse Gegenstände wie Kruzifixe, Weihwasserbecken, Kelche, doch auch Spielzeug und Zinnsoldaten hergestellt. Die Kampeller machten ihr Glück als Zinnverarbeiter vor allem in Deutschland. Die Familie Guglianetti brachte es zum Beispiel durch diese Arbeit in einer Stadt Bayerns zu Ansehen.
Der Wohlstand, der im letzten Jahrhundert der Zinnverarbeitung und der damit verbundenen Auswanderung zu verdanken war, fand durch die Zinnkrise in Deutschland und die Angst vor den nationalen Kriegen ein jähes Ende.
Die Stickereien
Die Frauen hatten zwar mit der Alltagsarbeit, der Betreuung der Kinder und Alten und sonstigen Arbeiten jeder Art alle Hände voll zu tun, fanden aber auch am Abend die Zeit, beim Licht von Öllampen oder Kerzen zu sticken.
Die sehr schönen und charakteristischen Stickereien, unter denen der »Puncetto« (eine Spitzenart) hervorsticht, wurden mit höchster Genauigkeit ausgeführt, wobei weiße oder bunte Bänder und Garne zum Einsatz kamen. Die Arbeiten wurden verkauft oder für die Aussteuer der Mädchen verwendet. Viele dienten auch zur Verzierung der Damenkleider, vor allem der Festtracht. Fotografien des letzten Jahrhunderts zeugen von der reichen Ausstattung, der Schönheit und den besonderen Merkmalen der Frauenkleider von Kampell, die vielleicht die edelsten im Tal waren.
Im Valle Strona tragen die älteren Frauen noch heute die alte Tracht, wie es ihre Großmütter im letzten Jahrhundert getan haben.
_______________
1 L. Cerutti, G. Malloni, E. Rizzi, La valle Strona, hg. von der Fondazione arch. Enrico Monti unter dem Ehrenschutz des Lions Club von Omegna, 1975, S. 181
2 Gemeindearchiv Valstrona, Abteilung Historisches Archiv von Kampell Monti, Notizie statistiche relative al Comune, 1. Bd., Mappe 68, Fasz. 5
3 Don. G. Zolla, A. Tensi, Campello Monti, Omegna, 1940, S. 167
4 L. Cerutti, "E' primavera, si sale all'alpe", La Strona, Juli-September Nr. 3, 1976, S. 4
5 Statistica 1824. Gemeindearchiv Valstrona, Abteilung Historisches Archiv von Kampell Monti, Notizie statistiche relative al Comune, 1. Bd., Mappe 68, Fasz. 5
6 Statistica 1825. Gemeindearchiv Valstrona, Abteilung Historisches Archiv von Kampell Monti, Notizie statistiche relative al Comune, 1. Bd., Mappe 68, Fasz. 5
7 S. in der vorliegenden Arbeit 1. Kapitel, Abs. 1.3.2.
8 L. Cerutti, "E' primavera, si sale all'alpe", La Strona, Juli-September Nr. 3, 1976, S. 4
9 M. Bottini, "Intrecci: lavori da donne", La Strona, April-Juni Nr. 2, 1977, S. 21
10 P. P. Viazzo, Comunità alpine, Bologna, Il Mulino, 1990, S. 86
11 C. Melloni, "Alpeggio ealpeggi in valle", La Strona, Juli-September Nr. 3, 1976, S. 9
12 M. Bertolani, "Metalli e rocce della valle Strona", La Strona, April-Juni Nr. 2, 1977, S. 23
13 Gemeindearchiv Valstrona, Abteilung Historisches Archiv von Kampell Monti, Einwohnerregister nach 1920, Mappe 69, 1. Register
14 L. Cerutti, G. Malloni, E. Rizzi, La valle Strona, hg. von der Fondazione arch. Enrico Monti unter dem Ehrenschutz des Lions Club von Omegna, 1975, S. 187
Die elegante Damenkleidung aus dem 18. Jh. ist – wie man zu sagen pflegt – das Ergebnis von Schichtungen und Überarbeitungen. Auch das ist Gegenstand einer Studie, die die Walsergemeinschaft Kampell betreibt, um Einflüsse und Ursprünge bei den Verzierungen, wie auch bei den Geweben festzustellen. Viele Veränderungen ergaben sich durch die Mode der jeweiligen Zeit, wie die Tücher mit Rosenmuster, die nach der Reise eines Kampellers nach Russland und in die Schweiz auftauchten.
Dank der wertvollen Zusammenarbeit mit der Archäologin Francesca Gandolfo, die auf die Untersuchung alter Stoffe spezialisiert ist (sie arbeitete im Museo Nazionale delle Artie Tradizioni Popolari von Rom), wurde eine Studie zur Frauentracht von Kampell ein- geleitet, von der ein Exemplar im genannten Museum verwahrt wird. Wie Dr. Gandolfo anführte, wurde die Frauentracht von Kampell gemeinsam mit rund tausend anderen Trachtenkleidern zu Beginn des 20. Jh. für eine ethnographische Ausstellung zusammengetragen, die in Rom im April 1911 zum fünfzigjährigen Bestehen der Einheit Italiens veranstaltet wurde.
Das komplexe Vorhaben der Ausstellung in Rom bewirkte die Zusammenarbeit politischer, institutioneller und kultureller Kreise. Das emporstrebende italienische Bürgertum suchte im Namen der Landeseinigung, die noch fern der Realität war, nach nationaler und internationaler Legitimierung und wollte gleichzeitig beweisen, dass der wirtschaftliche und kulturelle Rückstand der Nation der Vergangenheit angehörte und dass die Grundlage der politischen und territorialen Einheit fest war und auf eine rosige Zukunft schließen ließ.
Aus der direkten und indirekten Untersuchung der einzelnen Kleidungsstücke und aus den Befragungen im Valle Strona ging hervor, dass auch die Frauentracht von Kampell, wie die meisten Trachten der Sammlung, eine Rekonstruktion von Originalstücken ist, die von verschiedenen Familien des Ortes stammten und auf die Zeit zwischen Mitte und Ende des 19. Jh. zu datieren waren.
Nach der Veranstaltung von Rom wurde auch die Tracht von Kampell in eine dunkle Holzkiste gesperrt, wo sie achtzig Jahre und mehr ruhte, bis sie gemeinsam mit anderen für eine Trachtenausstellung des Piemonts und des Aostatals wieder hervorgeholt wurde. Nach fast hundert Jahren der Vergessenheit wurden die Gewänder nun aus wissenschaftlich-administrativen Gründen wieder ins Rampenlicht gestellt. Es erfolgten Bestandsaufnahmen des staatlichen Kulturgutes, die Stücke wurden katalogisiert, untersucht, um schließlich Gemeingut für Ausstellungen oder ähnliche Veranstaltungen zu werden.
Beim Öffnen der Kiste erwies sich der Erhaltungszustand der Tracht von Kampell als relativ gut (derzeit wird sie in einem bequemen, modernen Schrank verwahrt). Keine erkennbare Spur von Verschleiß hatte das Gewebe der einzelnen Teile irreparabel zerstört, ausgenommen die Seidenbänder der Schürze und die lange grüne Seidenschleife, die in Maschenform auf der metallenen Unterlage des Kopfschmucks befestigt ist. Es ist nicht bekannt, ob dieser Kopfschmuck im Lokalbereich verwendet wurde.
Das Trachtenkleid von Kampell, das im Museo Nazionale delle Artie Tradizioni Popolari erhalten ist, besteht aus acht Teilen, die Dr. Gandolfo folgendermaßen beschreibt: Die Bluse (Camisa) aus weißer Baumwolle mit langen Ärmeln ist seitlich geschlitzt und weist eine vordere Öffnung auf, die bis zur Taille reicht. Der Ausschnitt ist rund, dicht gekräuselt, mit einem ebenfalls gekräuselten Kragen und Knöpfchen-Verschluss. Ein Band aus Klöppelspitze ziert den Hals und die Manschetten, während Stickereien den Ärmel und Schulteransatz verschönern.
Das Kleid (Rassa) aus schwarzem Stoff ist ärmellos, schließt unter der Brust ab, der Ausschnitt ist viereckig mit vorderer Öffnung, die bis zur Taille reicht; die Verschnürung erfolgt mit einem Seidenband, das durch Metallösen gezogen wird. Der fassonierte Rücken mit breiten Trägern ist mit schmalen, bunt gewirkten Stoffstreifen verziert. Dichter Faltenwurf betont die Taille und bewirkt Fülle im hinteren Teil des Kleides.
Die Jacke (Camisulot) ist aus dunkelblauem Stoff und bedeckt die Hüften, der V-Ausschnitt hat eine vordere Öffnung, die mit kleinen Knöpfen geschlossen wird. Eine Goldborte säumt den Ausschnitt, die Öffnung und die Manschetten. Die Manschettenstulpe ist aus goldgelbem damassiertem Stoff.
Der Brusteinsatz (Pezza), der aus Paramentstoff hergestellt wurde, ist purpurrot, am oberen Rand ziert ihn ein hellblaues Seidenband, auf dem eine Goldseidenborte befestigt ist.
Die Schürze (Scusal) besteht aus zwei Stücken mit bunter mittlerer Stickeinlage; die reichen Taillenfalten werden durch einen hohen Bund niedergehalten. Die Bänder (Bindei) sind in sehr schlechtem Erhaltungszustand, der blaue Schürzenstoff weist ausgedehnte verblasste Stellen auf.
Die gestrickten Kniestrümpfe (Causi) sind hellblau, die Sohle ist hingegen weiß und kann ausgetauscht werden. Die Schuhe aus schwarzer gewirkter Wolle haben eine glatte Sohle, die aus handvernähten Schichten Stoff besteht, die Spitzen und Fersen sind mit schwarzem Stoff verstärkt, die Kappe ist mit einer bunten Seidenborte mit Blumenmuster verziert.
Mitarbeiter von Alessandro Roccavilla trugen im Jahr 1909 im Valle Strona diese Stücke zusammen, unter denen zwei bedeutende Elemente der Kampeller Tracht fehlen: der Gürtel (Curugia) und das Kopftuch (Mucaröl du testa).
Insgesamt scheint sich die Frauentracht von Kampell, was die Form anbelangt, an einen typischen Stil des 19. Jh., den »Empire-Stil« anzulehnen: vorne ein V-Ausschnitt, hinten drei große, in der Taille festgenähte Falten. Der Schnitt und die Verarbeitung der verschiedenen Teile weisen auf Handarbeit hin, es handelt sich bestimmt nicht um die Arbeit von Fachleuten. Bisweilen sind grobe Nahtstiche zu erkennen und die Verarbeitung lässt im Allgemeinen zu wünschen übrig, auch an den sichtbaren Stellen. Kleid und Jacke wurden nur zum Teil gefüttert, was darauf hinweist, dass man auch bei der Verwendung weniger wertvoller Stoffe sparte.
Der einzige Unterschied, der die heutige Frauentracht von Kampell von der des Museo Nazionale delle Arti e Tradizioni Popolari von Rom unterscheidet, liegt in der Bluse. Sie weist Ärmel und Manschetteneinsätze aus Valsesia-Spitze (Puncet) auf, wobei es sich um eine besondere Sticktechnik handelt (geordnete Reihe von Knoten, die mit der Nadel ausgeführt werden); der Ausschnitt ist eckig und wird ebenfalls von Puncetto-Stickerei abgeschlossen.
Eine Männertracht hat es nie gegeben, da sich die Männer, die zur Ausübung ihres Gewerbes auswandern mussten, die Mode der Zielorte aneigneten. Diese Hypothese betrachte ich nach Untersuchung historischer Unterlagen für überzeugend. Im Wesentlichen bildet die Festkleidung, vor allem der Hochzeitsanzug, die Männertracht von Kampell. Das unterscheidet uns von den anderen Walser Gemeinschaften, die hingegen die Trachtentradition beibehalten haben.
Die alte Sprache der Walser in Kampell ging zwischen dem ausgehenden 19. Jh. und den frühen Jahren des letzten Jahrhunderts verloren. Die Ursachen dafür waren vielfältig, einige auch »politisch«. Die zivilen und religiösen Behörden stellten ab dem 18. Jh. Bestimmungen und Regeln auf, die die Kampeller dazu zwangen, immer mehr die italienische Sprache oder den lombardisch-piemontesischen Dialekt zu gebrauchen, der im unteren Tal und in Omegna gesprochen wurde. Der Übergang von der Provinz Valsesia zum Bezirk Pallanza, die Loslösung von der Pfarre von Remmalju und die erzwungene Angliederung an die Pfarre Forno, das Verbot des Bischofs von Novara, Tittschu sprechende Pfarrer zu entsenden, die Eheschließung mit Frauen, die nicht aus der Gemeinschaft von Kampell oder Remmalju stammten, bewirkte, dass das Tittschu nach und nach verblasste und schließlich ganz vergessen wurde.
Heute gestattet es das Gesetz vom 15.12.1999, Nr. 482 – Schutz der Sprachminderheiten –, das auch von den Gebietskörperschaften (Gemeinden und Provinz) übernommen wurde, Abkommen mit den Schulbehörden zu treffen, um im Fall von Kampell zumindest Deutsch zu unterrichten. Es handelt sich meiner Ansicht nach um eine beachtliche kulturelle Anstrengung, die vielleicht von den ansässigen Familien nicht voll verstanden und unterstützt wird. Der Grund liegt darin, dass sich im Raum der Gemeinde Valstrona nur das Gebiet der früheren Gemeinde Kampell (die heute nur in der Sommerzeit bewohnt ist) eine historische Erinnerung bewahrt hat, die zumindest den Deutschunterricht wünschenswert erscheinen lässt.
In den letzten Monaten wurde bekannt, dass auch die Region Piemont ein Regionalgesetz zum Schutz der Walser Minderheit verabschieden möchte. Wir müssen den Gesetzestext abwarten, um die möglichen Auswirkungen abschätzen zu können.
Die 1991 gegründete »Walsergemeinschaft Kampel – Gruppo Walser Campello Monti« ist die einzige Vereinigung, die in Zusammen- arbeit mit der Kurverwaltung das Wissen um die Walser Kultur von Kampell fördert. Am 3. August 2002 fand die 10. Tagung »Kampell und die Walser« statt. Zum besseren Verständnis der zahlreichen Aktivitäten gebe ich anschließend eine kurze Zusammenfassung der Tätigkeit dieser Vereinigung wieder:
1. Tagung.
Geschichte, Brauchtum und Kultur von Kampell; Die Walser und ihre Sprache: das Titschu von Remmalju; Die Walser Sprache; Satz- und Wortbeispiele im Titschu von Alagna; Alemannische und franko-provenzalische Gemeinschaften im Gebiet von Issime und Gaby: Bemerkungen zu den Ortsnamen und zur historischen Bevölkerung; Zweige der histoisch-linguistischen Forschung von Ornavasso: das 17. Jh.; Notizen für die anthropologische Untersuchung einer Walser Gemeinschaft der Alpen: Kampell; D’junhfarwa (die junge Magd), Hert beini (so nahe bei euch) – Gedichte von Issime; Frindschaft (Freundschaft) und Gagum Aba (gegen Abend): Gedichte von Formazza.
2. Tagung.
Symbole und magisch-religiöse Zeichen im kulturellen alpinen Ökosystem der Walser von Kampell; Das Ritual des doppelten Todes (repìt) in Santa Maria/Remmalju und anderen Walser Gemeinschaften.
3. Tagung.
Mythen und Sagen, Ausdruck der Volkskultur; Die Walser in Kampell.
4. Tagung.
Aspekte des Alltags in Kampell vor dem zweiten Weltkrieg. Einige bibliographische Hinweise; Umwelt und Bauwesen in der Walser Kultur. Analyse der technologischen und Siedlungsstruktur in den deutsch-walliser Siedlungen von Alagna, Macugnaga und Formazza
5. Tagung.
Sozioökonomische Aspekte der Gemeinde Campello Monti; Tatsachen und Mythos in den Sitten und Volksbräuchen des Piemonts und des Aostatals. Gewänder erzählen ihre Geschichte: die Frauentracht von Kampell.
6. Tagung.
Geschichte der einzelnen Häuser unter Bezug auf ihre Eigentümer; Pirubek, Gedicht von Issime: Analyse und Kommentar.
7. Tagung.
Der Ursprung der Kirchengemeinschaft von Kampell und seiner Pfarre zur 250. Wiederkehr der Gründung: 1749/1999; Issime, eine alpine Gemeinschaft: Speisen und kulturelle Identität.
8. Tagung.
Walser Wallfahrten zum Grab des San Giulio d’Orta seit dem 16. Jh.; Das obere Valstrona zwischen traditioneller alpiner Landschaft und freier Entwicklung der Natur (wilderness).
9. Tagung.
Traditionelle Heilmethoden unter der Walser Bevölkerung; Ursprung und Gründe für die Kampeller Auswanderung in den deutschen Raum: Die Wege und Berufe.
10. Tagung.
Berge und Bergleute zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bzw. zwischen der lokalen und globalen Dimension; 1781 Zerstörung durch die Flut – 2002 Wiederherstellung durch den Computer (virtuelle Rekonstruktion der Kirche von Gaby, Kampell, auf CD ROM).
Um die Kenntnisse von Kampell und demnach des Valstrona zu fördern, haben wir an folgenden Veranstaltungen teilgenommen:
– Die Küche der Minderheiten in den Alpentälern: Ladiner, Okzitaner, Waldenser und Walser: Torre Pellice, 15.-16.-17. Oktober 1999, in Zusammenarbeit mit der Region Piemont.
– Gedenkfeier für Don Sisto Bighiani: Macugnaga, 26.-27.-28. November 1999, zur tausendsten Wiederkehr der Gründung von Macugnaga. Gastronomie-Wettbewerb unter den Hotelierschulen zum Thema »Die Walser Küche heute«.
Wir haben uns um Förderung nachstehender Vorhaben bemüht: –
»Kulturtourismus-Projekt im Valle Strona« mit der Gründung einer fächerübergreifenden Gruppe von Experten verschiedener Sektoren, die zum erstenmal am 12. November 1999 in Varallo Sesia zusammentraf. Um die Bedeutung des Vorhabens und der Perspektiven voll abschätzen zu können, gebe ich hier einen Auszug des Protokolls der genannten Sitzung wieder:
»… Der Präsident der Walsergemeinschaft Kampel, Rolando Balestroni, äußert nach kurzer Erläuterung der besonderen Merkmale des Valstrona:
– Geologie, Gesteinskunde und Insubrische Linie
– starke Konzentration des holzverarbeitenden Handwerks
– Abbau von Marmor und Nickelmineralien
– Etappe der großen Alpenüberquerung (GTA) und des großen Walser Weges (GSW)
– günstige Gesetze
– die Ansicht, dass bei Zustimmung der Anwesenden die Bedingungen vorliegen, um ein glaubhaftes Projekt zu erarbeiten, das dem gesamten Valstrona neue Möglichkeiten auch im Bereich der Arbeit bieten und somit die Abwanderung aufhalten kann.
Unter den Teilnehmern entwickelt sich eine ausführliche Debatte, aus der einige Leitlinien hervorgehen, die zu einem überzeugenden Projekt der Aufwertung des gesamten Gebietes zusammengefasst werden können. Die Schwerpunkte sind folgende: Wege, Markierungen, Bergwerke, Marmor, Museum, Einbindung der Lokalbevölkerung, Handwerker: Zusammenwirken von Handwerk und Tourismus – Arbeitsgruppe: fächerübergreifend, Landschaftsqualität: Verknüpfung der Umwelt und eines regen sozialen und wirtschaftlichen Lebens.
Vorschläge: Um verständlich zu machen, dass die angeführten Punkte keine Hirngespinste sind: unter Einbeziehung der Gebietskörperschaften Fahrt nach Schneeberg, einem Dorf auf 2300 m, in dem zur Zeit des Faschismus Blei und Zink abgebaut wurde; nun, seitdem es aufgelassen ist, wurde es zum Bergwerkmuseum umgestaltet.
Für das Zustandekommen dieses Projekts ist die entscheidende Unterstützung und Mitwirkung sowohl der Gemeinde als auch der Berggemeinschaft Valstrona nötig, an die wir uns wenden werden, sobald konkrete Vorschläge vorliegen.
Es stehen derzeit einige Studien vor dem Abschluss, darunter folgende:
– Bevölkerungssituation und Familien anhand des »Liber Status Animarum«
– das Buch über den Stand der Seelen, d.h. die Zählungen der Pfarrer, die in Kampell von 1749 bis heute aufeinander folgten. Geschichte der einzelnen Häuser anhand ihrer Eigentümer, im Laufe der Zeiten; die Arbeit wurde mit der letzten Studientagung vom Geom. Zaretti Antonio begonnen. Bis heute haben wir bereits 6 der 31 Häuser von Kampell – Hauptort der früheren autonomen Gemeinde Kampell – fertig bearbeitet; es folgen die Ortsteile von Waud, Pianpanìn und Tapòn.
– Mineralogische und gesteinskundliche Aspekte des Valstrona, unter besonderem Bezug auf die Nickelbergwerke von Kampell, die in Europa wegen des Platinvorkommens einzigartig sind.
– Die Küche unserer Vorfahren: einer Forschungsarbeit zur Küche von Kampell, die in einiger Zeit abgeschlossen wird. Während es anfänglich schien, dass die Kenntnisse unwiederbringlich verloren waren (keiner der Befragten wusste etwas zu berichten),tauchten allmählich beim Anschneiden verschiedener Themen (z.B.: Suppe – Reis – Kartoffeln – Polenta – Milch – Käse – Frösche – Schnecken usw. …) Erinnerungen auf. Heute liegen bereits zahlreiche Seiten Informationen, Anekdoten, Momente des Lebens, intensive zwischenmenschliche Beziehungen in der Familie und mit der Gemeinschaft von Kampell vor. Der gemeinsame Nenner lautet: was die Bevölkerung zu beißen hatte.
– Ortsnamengebung und Namen von Kampell: In Zusammenarbeit mit der Universität Turin wurde eine Forschungsarbeit zu den Ortsnamen begonnen, die mit der Veröffentlichung eines Buches abgeschlossen werden soll.
– In Lusérn wurde am 25. und 26. Mai 2002 ein Komitee der historischen deutschen Sprachinseln in Italien gegründet. Die Walser von Piemont sind durch die obige Vereinigung vertreten, die sich auch aktiv an der Abfassung der Satzung beteiligt hat.
– 13. Jänner 2003: Der Verein wurde Mitglied des Ecomuseo Cusius, das die Museen aller wichtigsten Ortschaften des Ortasees verbindet.
Francesco Pesce: Storia, tradizioni e cultura di Campello Monti.
Enrico Rizzi: I Walser a Campello.
Paolo Crosa Lenz: Appunti per un’indagine antropologica su una Comunità Walser delle Alpi: Campello Monti.
Grazia Bertola: Aspetti socio-economici del Comune di Campello Monti.
Emilio Locatelli: Aspetti di vita quotidiana a Campello Monti in Valle Strona prima del Secondo Conflitto mondiale.